Das „Selfie“ als Sinnbild der Wirkung sozialer Medien
Sind „Selfies“ Zertifikate der Anwesenheit?
Ist die Gegenwart des eigenen Antlitzes der Beweis der Authentizität?
Und sie sind dennoch Variationen der persönlichen Suche nach einer Antwort auf die Frage, die wir uns alle stellen: „Wer bin ich?“ Das ist angemessen zu würdigen.
Einerseits ist das „Selfie“ der Inbegriff des Narzissmus und schnell auch eines zwanghaften Selbstdarstellungstriebes. Andererseits: Wenn wir ein „Selfie“ aufnehmen, versuchen wir also ein Ideal-Ich zu schaffen, nicht nur als ein Anwesenheitszertifikat, sondern als Beweis unserer Existenz. Die visuelle Geschichte über uns selbst auf den sozialen Plattformen soll ein weiteres sichern: Es werden all die Ungereimtheiten, Widersprüche und Ängste verdrängt, die sich bei jedem von uns über die Jahre ansammeln. Über die „Selfies“ inszenieren Menschen sich als kohärente Wesen. Dann ist für einen Moment die Welt weniger anstrengend, weniger widersprüchlich und mindert auch das Gefühl von Einsamkeit, Verlorenheit, Bedeutungslosigkeit für eine gewisse Zeit. So kann das „Selfie“ auch als digitale Überlebensstrategie und auch als Teil unseres Selbsterfahrungsprozesses betrachtet werden – in der Hoffnung, dass die anderen unsere Inszenierung mit Zuneigung belohnen werden. Damit ist das „Selfie“ mit großem sozialen Druck und Stress verbunden. Der damit verbundene Wunsch nach Zuneigung birgt immer auch die Gefahr der Zurückweisung in sich.
Je nachdem, in welchem Alter sie sich befinden oder welcher Generation sie sich zugehörig erkennen, Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene sind immer auch Gegenwart, aber auch Teil der der Zukunft unserer Gesellschaft und wir müssen auch in psychiatrischen Zusammenhängen die Analyse und das Verstehen-Wollen mit Neugier und eigener Sympathie betreiben.
Heißt altern, wie Simon de Beauvoir sagte, sich über sich selbst klar zu werden?
Die sechs zentralen Eigenschaften heutiger junger Erwachsener:
- „Scheinbar“ Selbstbewusst
- Familienorientiert
- Online individualistisch
- Offline konservativ
- Ungeduldiger
- Digital versiert
Die Generation Z ist von Geburt an digital, sie hat dadurch die Fähigkeit erworben, sekundenschnell Inhalte zu sichten, zu filtern und zu bewerten. Das beeinflusst lesen, lernen und entscheiden – und auch verzweifeln.
Die Folgegeneration trägt schon den Titel Generation Alpha, sie umfasst alle zwischen 2011 und 2025 Geborene. Die Generation Alpha wird deutlich stärker und selbstverständlicher digital vernetzt sein, als es die Generation Z heute schon ist.
Was gehört zur Kehrseite dieser westeuropäischen/deutschen gesellschaftlichen Sozialisation für junge Erwachsene ?
Betrachtet man den Online- und Social-Media-Konsum von jungen Erwachsenen, so konnte man während der Pandemie durchschnittlich 70,4 Stunden pro Woche Online-Tätigkeit feststellen oder anders ausgedrückt: 42 % ihres Tages verbrachten junge Menschen in der Online-Welt. Internetsüchte sind ein weit verbreitetes, aber noch nicht genug beachtetes Krankheitsbild. Die Aufmerksamkeitsspanne junger Menschen reduziert sich immer weiter und fördert daneben auch andere mit dem Internetkonsum verbundene psychische Erkrankungen und Folgen wie Angststörungen, soziale Unsicherheit oder Depressionen. Allerdings kann man das Smartphone schlecht aus dem Alltag verbannen; so würde man sich zwangsläufig ins analoge Abseits schießen: Kein Kontakt zur Internetgemeinde bedeutet auch Verzicht auf analogen Kontakt und die Kontaktmöglichkeiten dazu.
Eltern stehen heute vor einer schwierigen Situation: Einerseits wollen sie die digitalen Kompetenzen ihrer Jugendlichen und jungen Erwachsenen vorantreiben, andererseits die negativen Auswirkungen der digitalen Welt einschränken. Digitale Nutzung müsste so weit gebremst werden, dass die junge Generation auch einmal ohne Smartphone eine Lösung für ihr Problem finden könnte. Hinzu kommt, dass viele Eltern fleißig mithelfen, dass sich ihre Kinder in der analogen Welt, der Welt ohne Internet nicht mehr auskennen. Sie erfüllen viele Wünsche ihrer Kinder, sie erziehen sie zudem oft über protektiv, d. h. sie sorgen dafür, dass ihren Kindern viel abgenommen wird, was in der analogen Welt schwierig oder unangenehm wirkt.
Untersuchungen zeigen, dass in der Generation Z und der beginnenden Generation Alpha viele Grundkompetenzen der Selbstbeschäftigung, das Finden und Ansprechen von Freunden, das Erlernen von Selbständigkeit, mitunter einer richtigen Ausdrucksweise in vollständigen Sätzen, fehlen. Wächst hier eine Generation von jungen Erwachsenen heran, die Schwierigkeiten hat, ihr noch junges Leben zu bewältigen, die später im höheren Alter viele Dinge mühsam wieder antrainieren müssen, die vorherige Generationen im analogen Raum noch im Kindesalter gelernt haben?
Störungsbilder bei Jugendlichen und jungen Erwachsen haben rapide zugenommen:
Bis zum Jahr 2021 betrug der Anteil von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, bei denen innerhalb eines Jahres mindestens einmal eine psychische Störung diagnostiziert wurde, fast 30 %. Im Jahr 2019 wurde berichtet, dass bei begonnenen Psychotherapien Anpassungsstörungen der vorwiegende Grund waren und Reaktionen auf schwere Belastungen wie Mobbing oder eine Trennung der Eltern erfolgte. Der zweithäufigste Grund für Psychotherapien waren Depressionen mit über 20 %, gefolgt von Angststörungen mit über 15 %. Das Handy macht indirekt und damit stoffungebunden süchtig. In der Auseinandersetzung mit dem Smartphone, wenn wir beispielsweise Likes bekommen, werden körpereigene Hormone und Neurotransmitter produziert. Wir bekommen Likes und wir fühlen uns gut. Um uns weiterhin gut zu fühlen, greifen wir häufiger zum Smartphone – ein Teufelskreis.
Zur Internetsucht gesellte sich die Nomophobie:
Ein zu frühes und intensives Nutzen des Smartphones kann die Entwicklung einer Nomophobie begünstigen, also die Angst, ohne das Smartphone zu sein. Zu den Symptomen der Internetsucht gehören neben einer exzessiven und permanenten Beschäftigung mit der Online-Welt ein Kontrollverlust, Entzugserscheinungen, Gereiztheit, Ruhelosigkeit und Nervosität. Eine Toleranz entwickelt sich, d. h. dass der bereits exzessive Konsum immer weiter ausgedehnt werden muss, schließlich wird das eigene Denken und Handeln eingeengt, so dass nur noch Tätigkeit durchgeführt werden, die in der digitalen Welt stattfinden. Schrittweise kappt die Internetsucht damit die Verbindung zur analogen Welt.
Verhaltenstherapeuten klagen heute über fehlende Copingstrategien bei vielen Jugendlichen und jungen Erwachsenen, d. h. die Bewältigungsstrategien, um mit einer schwierigen Situation umzugehen, sind nur gering vorhanden. In der Psychologie spricht man auch davon, dass die Resilienz – also die psychische Widerstandsfähigkeit – fehlt, d. h. es wurde schlicht nicht trainiert, mit Niederlagen, Schwierigkeiten oder Hindernissen umzugehen. Etwa 15 % der Eltern behüten ihre Kinder so sehr, dass diese später eine geringe Frustrationstoleranz und Resilienz aufweisen.
Keine Generation von jungen Menschen lässt bisher so viele Störungsbilder erkennen wie die heutige. Störungsbilder wie ADHS, Magersucht, Bulimie, Depressionen, Angststörungen oder Borderline treten immer öfter auf. Kinderpsychologen warnen vor überbehütendem Erziehungsstil: „Jugendliche und junge Erwachsene wissen zu wenig über andere Menschen und zu wenig über sich selbst. Sie wissen oft nicht, was es heißt, traurig oder frustriert zu sein, sie kennen deshalb oft wenig Mitgefühl mit anderen Menschen. Paradoxerweise kommen durch Überbehütung oft gleiche Verhaltensprobleme zustande wie bei einem vernachlässigendem Erziehungsverhalten.
Schon Studien aus den 1990ger-Jahren belegen, dass Kinder, die sehr früh und sehr lange ferngesehen haben, es später viel schwerer haben, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, also Empathie zu entwickeln. Man geht davon aus, dass durch die frühe und lange Smartphone-Nutzung und das Bewegen in Social-Media-Welten dieser Effekt sogar noch deutlich stärker zunehmen wird.
Fear Of Missing Out (FOMO) ist ein Begriff, der schon im Oxford-Dictionary steht. Social-Media-fixierte Menschen haben ständig Angst, ihnen könnte etwas entgehen und sie sind deshalb ständig digital aktiv. Hinzu kommt, dass die heutige Cyber-Gesellschaft durch die Aufmerksamkeits-Ökonomie gesteuert wird. Nur wenn wir im Netz aufmerksam sind, können wir auf die Interaktionen der anderen reagieren, die uns dann wiederum ihre Aufmerksamkeit schenken: Wer nichts postet, ist nicht existent. Es gibt im Cyber-Space auch Phänomene wie Verantwortungsdiffusion, das beschreibt, dass Einzelne sich weniger für ihr Handeln verantwortlich fühlen, wenn sie Teil einer Gruppe sind; dies gilt für die reale Welt, aber erst recht für den Cyber-Space. Mobbing anderer ist vielfach die Folge, auch durch die tatsächliche oder gefühlte Anonymität des Internets.
Porno und die analoge Welt:
Die meisten Erstnutzer pornografischer Anbieter sind weit unter 23 Jahren. Was macht das mit den Jugendlichen und jungen Erwachsenen? Es findet in der Regel keine Supervision, kein Besprechen, kein Aufklären statt. Völlig auf sich gestellt müssen Jugendliche in der Cyber-Welt erwachsen werden, während sie oft gleichzeitig in der analogen Welt von ihren Eltern überbehütet, verwöhnt oder vernachlässigt werden. Forscher sehen zum Teil eine direkt positive Korrelation zwischen Pornokonsum und Angstzuständen, Einsamkeit, depressiven Symptomen und der Ungeübtheit respektvoller erotischer Erfahrungen in der analogen Welt mit realen Partner*Innen zu beginnen.
Im nächsten Beitrag geht es darum, was das alles mit den Möglichkeiten der Sozialpsychiatrie zu tun?